Der Kindesunterhalt befindet sich in einer tiefgreifenden Reformphase. Seit 2017 hat der Bundesgerichtshof (BGH) seine Rechtsprechung schrittweise geändert – ein „Systemwechsel“, der die Unterhaltsberechnung für Eltern im Residenz- und Wechselmodell grundlegend neu definiert. Dieser Beitrag erklärt die Hintergründe, aktuelle Entwicklungen und praktischen Auswirkungen.
Was bedeutet der Systemwechsel?
Bisher wurde der Kindesunterhalt im Residenzmodell (Hauptbetreuung bei einem Elternteil) ausschließlich am Einkommen des nicht betreuenden Elternteils bemessen. Seit der BGH-Entscheidung von 2017 (FamRZ 2017, 437) gilt:
Der Bedarf des Kindes richtet sich nun nach dem zusammengerechneten Einkommen beider Eltern.
Die Haftungsquote (wer wie viel zahlt) wird jedoch weiterhin individuell anhand der Leistungsfähigkeit jedes Elternteils ermittelt.
Beispiel: Verdient der Vater 3.000 € netto und die Mutter 2.000 €, errechnet sich der Bedarf aus 5.000 € (Einkommensgruppe 9 der Düsseldorfer Tabelle). Der Vater zahlt maximal den Betrag, den er allein stemmen könnte (z. B. 510,50 €), die Mutter muss den „Restbedarf“ durch Naturalleistungen decken.
Hintergründe der Reform
Die alte Berechnungspraxis stammte aus einer Zeit, in der der betreuende Elternteil oft kein eigenes Einkommen hatte. Heute arbeiten beide Eltern häufig – die bisherige Regelung führte zu systematischer Benachteiligung:
Der betreuende Elternteil trug indirekt 1,5-fache Unterhaltslast durch Steuerung des Ehegattenunterhalts.
Das Kind erhielt keinen Lebensstandard, der beiden Elterneinkommen gerecht wird.
Der BGH reagierte 2017 zunächst für das Wechselmodell und übertrug die Logik 2022 auf das Residenzmodell (BGH FamRZ 2022, 1366).
Schlüsselbegriffe: Bedarf vs. Haftungsquote
Bedarf:
Berechnet sich aus dem gemeinsamen Elterneinkommen (Düsseldorfer Tabelle).
Beispiel: Bei 5.000 € Gesamteinkommen beträgt der Bedarf für ein 8-jähriges Kind 715,50 € (abzüglich hälftigem Kindergeld).
Haftungsquote:
Jeder Elternteil haftet nur im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit:
Der nicht betreuende Elternteil zahlt maximal den Tabellenbetrag seines Einkommens.
Der betreuende Elternteil deckt die Differenz zum Gesamtbedarf durch Naturalleistungen12.
Mindestunterhalt und Existenzminimum
Der Mindestunterhalt orientiert sich am staatlich festgelegten Existenzminimum (aktuell 1.750 € angemessener Selbstbehalt). Wichtige Neuerungen:
Bei Unterschreitung des Selbstbehalts reduziert sich die Haftungsquote.
Der betreuende Elternteil muss nachweisen, dass er den Restbedarf tatsächlich leistet (OLG Oldenburg, 2023)12.
Auswirkungen auf das Wechselmodell
Im Wechselmodell (paritätische Betreuung) gilt:
Bedarf wird ebenfalls aus dem Gesamteinkommen berechnet.
Haftung verteilt sich anteilig nach Einkommen und Betreuungsleistung:
Naturalleistungen (Wohnen, Verpflegung) werden angerechnet.
Kindergeld wird hälftig auf Barbedarf und Betreuung aufgeteilt.
Rechenbeispiel:
Einkommen Vater | Einkommen Mutter | Kindergeld | Ausgleichszahlung |
4.000 € | 2.000 € | 255 € | 84,25 € (V → M) |
Aktuelle Rechtsprechung
BGH, 10.04.2024 (XII ZB 459/23): Jeder Elternteil kann Unterhaltsansprüche des Kindes im Wechselmodell geltend machen, sofern nicht verheiratet.
OLG Oldenburg, 2023: Keine pauschale Anrechnung von Naturalleistungen ohne konkreten Nachweis.
Kritik und Reformansätze
Die BGH-Rechtsprechung ist umstritten:
Befürworter sehen eine gerechtere Lastenverteilung.
Kritiker halten sie für gesetzeswidrig, da § 1606 Abs. 3 BGB eine Barunterhaltspflicht des betreuenden Elternteils nicht vorsieht.
Der Diskussionsentwurf des BMJ (Dezember 2024) plant eine gesetzliche Verankerung:
Residenzmodell: Betreuung ab 70 % beim Hauptelternteil.
Asymmetrisches Wechselmodell: 30–49 % Betreuungsanteil mit pauschaliertem Unterhaltsabschlag12.
Fazit: Was bedeutet das für Betroffene?
Der Systemwechsel führt zu:
✅ Höherem Ehegattenunterhalt für den betreuenden Elternteil.
✅ Realistischem Lebensstandard für Kinder durch Berücksichtigung beider Elterneinkommen.
❌ Komplexeren Berechnungen und Abstimmungsbedarf zwischen Eltern.
Praxistipp: Nutzen Sie Online-Rechner für erste Schätzungen, aber lassen Sie eine individuelle Berechnung durch einen Fachanwalt prüfen – vor allem bei Sonderbedarf (z. B. Nachhilfe) oder unklaren Betreuungsanteilen.
Mit der geplanten Gesetzesreform 2025 wird sich die Unterhaltslandschaft weiter stabilisieren. Bis dahin bleibt die Rechtsprechung des BGH maßgeblich – ein Paradigmenwechsel, der die Unterhaltsrealität moderner Familien endlich abbildet.
Hinweis: Dieser Beitrag ersetzt keine Rechtsberatung. Bei konkreten Fragen wenden Sie sich bitte an einen Fachanwalt