KG: Fiktives Nettoeinkommen von 890 Euro für ungelernte Serviererin
BGB § 1602
Die Zurechnung eines fiktiven, den eigenen Unterhaltsbedarf deckenden Einkommens erfordert, dass auf dem Arbeitsmarkt eine reale Chance besteht, das zuzurechnende Einkommen zu verdienen. Wie das Kammergericht entschieden hat, existiert aber selbst in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit kein Erfahrungssatz oder eine Vermutung, dass Beschäftigungschancen nicht bestehen; vielmehr ist deren Fehlen im Einzelfall konkret festzustellen. An eine solche Feststellung sind auch bei angespannter Lage auf dem Arbeitsmarkt keine geringen Anforderungen zu stellen, denn anderenfalls bestünde keine Möglichkeit mehr, zwischen vorgetäuschter und wirklicher Chancenlosigkeit zu unterscheiden.
KG, Beschluss vom 28.03.2007 - 13 WF 23/07; BeckRS 2007, 14254
Sachverhalt
Die Beklagte begehrt PKH für die Rechtsverteidigung gegen eine vom Kläger erhobene Klage auf Abänderung eines Urteils, durch welches er zur Zahlung von Trennungsunterhalt in Höhe von monatlich 1.024 Euro an die Beklagte verurteilt ist. Bei Erlass dieses Urteils lebten die Parteien rund 1 ½ Jahre voneinander getrennt. Die im Jahre 1964 geborene Beklagte, die über keine Berufsausbildung verfügt, war seinerzeit ohne Erwerbseinkommen. Der Unterhaltsberechnung des AG lagen fiktive Einkünfte des Klägers zu Grunde, da dieser nach Kündigung seines Arbeitsverhältnisses seine Obliegenheit zur Arbeitssuche verletzt hatte. Der Kläger begründete seine Abänderungsklage mit krankheitsbedingten Einschränkungen sowie dem Hinweis darauf, die Beklagte sei inzwischen vollschichtig als Kellnerin tätig. Vom AG wurde das PKH-Gesuch der Beklagten mangels Erfolgsaussicht ihrer Rechtsverteidigung zurückgewiesen, da dem Kläger keine fiktiven Erwerbseinkünfte mehr zugerechnet werden könnten. Vom AG wurde der dagegen gerichteten Beschwerde der Beklagten nicht abgeholfen. Die sofortige Beschwerde der Beklagten erwies sich als teilweise begründet.
Rechtliche Wertung
Das KG beanstandete zunächst, dass der PKH-Antrag der Beklagten vom AG zu spät beschieden worden sei. Wäre nach Ablauf der dem Kläger eingeräumten Frist zur Stellungnahme zum PKH-Gesuch der Beklagten entschieden worden, habe das AG nicht von einer gegenüber dem Ausgangsurteil reduzierten Leistungsfähigkeit des Klägers ausgehen dürfen. Dass die Beklagte dagegen Bewerbungsbemühungen entfaltet habe, lasse sich ihrem Vortrag nicht entnehmen; allein telefonische Bewerbungen seien nicht ausreichend. Der Ansatz eines fiktiven Einkommens setze voraus, dass auf dem Arbeitsmarkt eine reale Chance bestehe, das zuzurechnende Einkommen zu verdienen. Auch in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit gebe es keinen Erfahrungssatz und auch keine für die Partei streitende Vermutung, dass – wie immer geartete – Beschäftigungschancen nicht bestünden; vielmehr sei das Fehlen entsprechender Chancen auf dem Arbeitsmarkt im Einzelfall konkret festzustellen. Daran seien auch bei angespannter Lage auf dem Arbeitsmarkt keine geringen Anforderungen zu stellen, denn anderenfalls bestehe keine Möglichkeit mehr, zwischen vorgetäuschter und wirklicher Chancenlosigkeit zu unterscheiden (OLG Köln, Beschluss vom 06.02.1998 - 4 WF 294/97, NJWE-FER 1999, 84, 85). Die Darlegungs- und Beweislast trage insoweit die Beklagte. Ihr Vortrag, als mittlerweile 42-jährige ungelernte Kraft habe sie auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Chancen mehr, sei unzureichend und einer Beweisaufnahme nicht zugänglich, zumal sie über Berufserfahrung als Serviererin verfüge und von gesundheitlichen Beeinträchtigungen nichts bekannt sei. Als ungelernte Servicekraft im Berliner Gaststättengewerbe könne sie brutto 1.182 Euro verdienen, was bei Lohnsteuerklasse I und 0,5 Kinderfreibetrag netto 890 Euro netto entspreche (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 29.09.2006 - 5 UF 171/06, NJW 2007, 382 mit Anmerkung Born, FD-FamR 2006, 203695).
Praxishinweis
Die Entscheidung enthält zunächst den wichtigen Hinweis auf die Darlegungs- und Beweislast desjenigen, der sich auf die fehlende Möglichkeit erzielbarer Einkünfte beruft. Er muss grundsätzlich vortragen und gegebenenfalls beweisen, welche konkreten Bemühungen er entfaltet hat, um Arbeit zu finden; die unternommenen Schritte sind zu dokumentieren, z. B. durch eine nachprüfbare Auflistung auch telefonischer Bewerbungen (OLG Köln, Beschluss vom 12.02.1997 - 14 WF 14/97, NJWE-FER 1997, 174). Nicht ausreichend sind allgemeine Hinweise auf schlechte Arbeitsmarktlage oder die Schwierigkeiten berufsungeübter Frauen mittleren Alters, eine Anstellung zu finden (Kalthoener/Büttner/Niepmann Rn. 623). Andererseits können allgemeine Erfahrungssätze zu beachten sein, z. B. der Umstand, dass sich eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent besonders ungünstig auf weibliche Arbeitssuchende über 50 Jahre auswirkt (BGH, Urteil vom 27.11.1985 - IV b ZR 79/84, NJW 1986, 718) oder dass ein «Gehaltsgefälle» zwischen männlichen und weiblichen Arbeitkräften besteht (OLG Hamm, Urteil vom 19.11.1997 - 8 UF 196/97, FamRZ 1998, 1251 mit Anmerkung Born).
Für die Partei (und den sie vertretenen Anwalt) ist es angesichts dieser Grundsätze regelmäßig gefährlich, sich auf eine «pauschale Negativprognose» zu verlassen. Danach ist eine unzureichende Arbeitssuche dann unschädlich, wenn eine reale Beschäftigungschance nicht besteht. Gerade weil die «Testfrage», ob der Arbeitssuchende bei ausreichenden Bemühungen eine Stelle gefunden hätte, von ausgesprochen vielen Faktoren abhängt (objektive Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, subjektive Eigenschaften des Bewerbers), sind die Gerichte erfahrungsgemäß sehr zurückhaltend damit, eine solche Negativprognose anzunehmen. Man hört gelegentlich den Hinweis darauf, dass man als Gericht im Rahmen eines späteren Abänderungsverfahrens mit Erstaunen festgestellt habe, dass eine Partei trotz ungünstiger «Papierform» gleichwohl eine Stelle gefunden habe. Es gibt keinen Erfahrungssatz dahin, dass z. B. Aussiedler oder ausländische Mitbewohner mit Sprachschwierigkeiten (OLG Hamm, Beschluss vom 31.01.1996 - 8 UF 339/95, NJWE-FER 1996, 33), ungelernte Kräfte bei schlechter Arbeitsmarktlage (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29.05.1998 - 5 WF 39/98, NJWE-FER 1998, 246) oder Langzeitarbeitslose (OLG Brandenburg, Urteil vom 29.06.2000 - 9 UF 309/99, NJWE-FER 2001, 70) nicht vermittelbar seien.
Telefonische Bewerbungen wird man nur ausnahmsweise für ausreichend halten können (AG Hanau, Urteil vom 18.02.1999 - 63 F 537/98, FamRZ 2000, 306).
Was im Rahmen der Höhe des fiktiven Einkommens angesetzt werden kann, ist ebenfalls stark einzelfallbezogen. Das KG hat hier Übersichten aus dem Internet herangezogen (www.lohnspiegel.de bzw. www.boeckler.de) und ist zu möglichen Einkünften von brutto 1.182 ( = netto 890) Euro gekommen. Dies entspricht dem notwendigen Selbstbehalt. Das OLG Frankfurt a. M. (Beschluss vom 29.09.2006 - 5 UF 171/06, BeckRS 2006, 13063) hat festgestellt, dass die Stundenlöhne selbst bei gelernten Arbeitskräften nur in Bereich von 10 Euro liegen und das Baugewerbe im Ergebnis keine Ausnahme macht, auch wenn dort für ungelernte Kräfte schon seit September 2005 ein Mindestlohn von 10,20 Euro vorgesehen ist; denn in diesem Gewerbe werden zurzeit praktisch keine ungelernten Arbeiter ohne Bauberufserfahrung eingestellt, weil der Markt auf ausländische Arbeitskräfte (oft mit Unterschreitung der Mindestbedingungen) zurückgreift. Das OLG Naumburg (Urteil vom 17.08.2006 - 4 UF 10/06, BeckRS 2007 03711 mit Anmerkung Born FD-FamR 2007, 225243) hat unter Ansatz eines Stundenlohns von 8,80 Euro ein monatliches Nettoeinkommen von 1.000 Euro fingiert und im Falle erhöhter Erwerbsobliegenheit (§ 1603 II 1 BGB) noch zusätzlich 150 Euro wegen möglicher Nebentätigkeit hinzugerechnet.
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