EMRK Art. 8, 14
BGB § 1626a
Die Verweigerung des gemeinsamen Sorgerechts für nicht verheiratete Väter wegen fehlenden Einverständnisses der Mutter verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.
EGMR, Urteil vom 03.12.2009 – 22028/04
Entscheidungsgründe
Der 1974 geborene Beschwerdeführer ist Vater einer 1995 nicht ehelich geborenen Tochter. Er und die Kindesmutter trennten sich im August 1998 nach fünfjähriger Beziehung. Bis Januar 2001 lebte die Tochter beim Beschwerdeführer, während die Mutter in eine andere Wohnung im selben Gebäude gezogen war. Da die Eltern keine gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben hatten, erhielt die Mutter nach § 1626a Abs. 2 BGB die alleinige elterliche Sorge.
Im Januar 2001 zog das Kind in den Haushalt der Mutter. In der Folgezeit begannen die Eltern, über den Umgang des Beschwerdeführers mit dem Kind zu streiten. Im Juni 2001 gelangten sie zu einer Einigung.
Im selben Jahr stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Anordnung der gemeinsamen elterlichen Sorge, der sowohl vom AmtsG als auch vom OLG in der Beschwerdeinstanz im Hinblick auf die geltende Rechtslage verweigert wurde.
Am 15. 12. 2003 lehnte das BVerfG unter Hinweis auf sein Verfahrensrecht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.
Die Beschwerde hat Erfolg und führt dazu, dass dem betroffenen Vater eine Entschädigung von rund 7 000 € von der Bundesrepublik Deutschland zu zahlen ist.
Der Gerichtshof sieht es als eine Diskriminierung unverheirateter Väter an, die erstmals das Sorgerecht beantragen wollen, wenn diese die elterliche Sorge nur mit Einverständnis der Mutter des Kindes erlangen
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können und nicht die Möglichkeit haben, eine gerichtliche Entscheidung über die Übertragung der gemeinsamen Sorge herbeizuführen. Darin sieht der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 8 und Art. 14 der Menschenrechtskonvention.
Insoweit weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass eine Familie auch gegeben ist, wenn die Beteiligten in nicht ehelicher Gemeinschaft zusammen leben. Dazu heißt es wie folgt:
»[37] In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass der Begriff der Familie nach dieser Bestimmung nicht auf durch Ehe begründete Beziehungen beschränkt ist und auch andere de facto ›Familien‹-Beziehungen umfassen kann, wenn die Beteiligten in nichtehelicher Gemeinschaft zusammenleben. Ein Kind, das aus einer solchen Beziehung hervorgeht, ist vom Augenblick seiner Geburt an und schon allein durch seine Geburt ipso iure Teil dieses ›Familien‹-Verbandes. Zwischen dem Kind und seinen Eltern besteht also eine Bindung, die dem Familienleben gleichkommt (s. Urteil Keegan ./. Irland vom 26. 5. 1994, Serie A, Band 290, Rdn. 44). Ob ein ›Familienleben‹ iSv Art. 8 besteht, ist im Wesentlichen eine Tatsachenfrage, bei der es darauf ankommt, ob tatsächlich und praktisch enge persönliche Bindungen vorliegen, insbesondere das nachweisbare Interesse des Vaters an dem Kind und sein Bekenntnis zu ihm sowohl vor als auch nach der Geburt (s. u.a. Lebbink ./. Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 45582/99, Rdn. 36, ECHR 2004-IV).«
Ferner geht der Gerichtshof davon aus, dass das Zusammensein eines Elternteils mit seinem Kind zu den grundlegenden Bestandteilen dieses Familienlebens gehört. Dazu wird Folgendes ausgeführt:
»[38] Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass für einen Elternteil und sein Kind das Zusammensein einen grundlegenden Bestandteil des Familienlebens darstellt, selbst wenn die Beziehung zwischen den Eltern zerbrochen ist, und innerstaatliche Maßnahmen, welche die Betroffenen an diesem Zusammensein hindern, einen Eingriff in das durch Art. 8 der Konvention geschützte Recht bedeuten (s. u.a. Urteil Johansen ./. Norwegen vom 7. 8. 1996, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996-III, S. 1001-1002, Rdn. 52, und E. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdn. 43, ECHR 2000-VIII).«
Aus diesem Grunde erblickt der Gerichtshof in den Entscheidungen, mit denen der Antrag des Beschwerdeführers auf das gemeinsame Sorgerecht abgelehnt wurde, einen Verstoß gegen Art. 8 der Konvention.
Er geht ferner davon aus, dass ein Verstoß gegen Art. 14 (Gleichheitsgrundsatz) gegeben ist. Insoweit bezieht sich der Gerichtshof auf die geltende Rechtslage in Bezug auf Väter ehelicher Kinder im Vergleich zu Vätern nicht ehelicher Kinder. Dazu wird Folgendes erwogen:
»[44] Zur geltenden Rechtlage in Bezug auf Väter ehelicher Kinder im Vergleich zu Vätern nichtehelicher Kinder stellt der Gerichtshof fest, dass die geltenden Rechtsvorschriften unterschiedliche Regelungen enthalten und zu einer unterschiedlichen Behandlung der beiden Gruppen von Elternteilen führen. Ein Elternteil der ersten Gruppe hat von vornherein und auch noch nach der Scheidung ein gesetzliches Recht auf die gemeinsame elterliche Sorge, das nur dann von einem FamG eingeschränkt oder für ruhend erklärt werden kann, wenn dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist. Der Gerichtshof stellt fest, dass die elterliche Sorge für ein nichteheliches Kind hingegen der Mutter zusteht, es sei denn, die beiden Elternteile einigen sich darauf, die gemeinsame elterliche Sorge zu beantragen. Die einschlägigen Bestimmungen schließen zwar nicht kategorisch aus, dass der Vater künftig das gemeinsame Sorgerecht erlangen kann, doch nach §§ 1666 und 1672 BGB kann das FamG das Sorgerecht nur dann auf den Vater übertragen, wenn das Wohl des Kindes durch Vernachlässigung seitens der Mutter gefährdet ist oder wenn ein Elternteil mit Zustimmung des anderen Elternteils einen entsprechenden Antrag stellt. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, d.h. ist das Wohl des Kindes nicht gefährdet und stimmt die Mutter einer Übertragung des Sorgerechts nicht zu, wie im vorliegenden Fall festgestellt wurde, sieht das deutsche Recht keine gerichtliche Überprüfung der Frage vor, ob die Zuweisung der gemeinsamen elterlichen Sorge an beide Elternteile dem Kindeswohl dienen würde.«
Dabei hebt der Gerichtshof hervor, dass es durchaus Unterschiede zwischen den ehelichen Lebensverhältnissen nicht miteinander verheirateter Eltern und denen, die verheiratet sind, und es durchaus Fälle geben kann, in denen es aus Gründen des Kindeswohls gerechtfertigt ist, die elterliche Sorge nur einem Elternteil zu übertragen. Diese Unterschiede, die eine unterschiedliche Sachbehandlung rechtfertigen, sieht der Gerichtshof im vorliegenden Fall jedoch nicht, zumal der Kindesvater regelmäßigen Umgang mit dem Kind hat und Streitigkeiten zwischen den Eltern im Grunde genommen nicht bestehen. Ausgeführt wird dazu Folgendes:
»[57] Der Gerichtshof stellt insbesondere fest, dass die vorstehenden Erwägungen im Fall des Beschwerdeführers nicht zutrafen. Die Vaterschaft des Beschwerdeführers stand von Beginn an fest; er lebte mit der Mutter und dem Kind zusammen, bis das Kind dreieinhalb Jahre alt war, und nach der Trennung der Eltern noch weitere zwei Jahre mit dem Kind, insgesamt also mehr als fünf Jahre. Nachdem das Kind zur Mutter gezogen war, übte der Vater weiterhin ein umfangreiches Umgangsrecht aus und sorgte für die täglichen Bedürfnisse des Kindes. Dennoch war es dem Beschwerdeführer von vornherein kraft Gesetzes verwehrt, eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen, ob die Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Kindeswohl dienen würde, und eine möglicherweise willkürliche Weigerung der Mutter, dem gemeinsamen Sorgerecht zuzustimmen, durch eine gerichtliche Entscheidung ersetzen zu lassen.
[58] Der Gerichtshof ist nicht überzeugt von dem von der Regierung vorgetragenen und in der Begründung des BVerfGs enthaltenen Argument, der Gesetzgeber dürfe davon ausgehen, dass, wenn die Eltern zusammenlebten, die Mutter sich aber weigere, eine gemeinsame Sorgeerklärung abzugeben, dies eine Ausnahme sei und die Mutter dafür schwerwiegende Gründe habe, die vom Kindeswohl getragen seien. In diesem Zusammenhang begrüßt der Gerichtshof die von der
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Regierung ergriffenen Maßnahmen, um dem Auftrag des BVerfGs nachzukommen, die tatsächliche Entwicklung zu beobachten und zu prüfen, ob die dem Regelungskonzept zu Grunde liegenden Annahmen auch vor der Wirklichkeit Bestand hätten. Er stellt jedoch fest, dass diese Untersuchungen noch keine klaren Ergebnisse erbracht haben und insbesondere, was die Beweggründe der Mütter für die Ablehnung der gemeinsamen elterlichen Sorge angeht, zeigen, dass diese nicht notwendig von Erwägungen des Kindeswohls getragen sein müssen.«
Ferner ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass u.U. nicht ausgeschlossen werden kann, dass die gerichtliche Anordnung der gemeinsamen Sorge zu Konflikten zwischen beiden Elternteilen führen und dies dem Kindeswohl abträglich sei. Dazu wird Folgendes ausgeführt:
»[61] Das insoweit von der Regierung angeführte Argument, unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache könne nicht ausgeschlossen werden, dass die gerichtliche Anordnung der gemeinsamen Sorge zu Konflikten zwischen beiden Elternteilen führe und dem Kindeswohl daher abträglich sei, überzeugt den Gerichtshof nicht. Es stimmt zwar, dass Gerichtsverfahren, die die Zuweisung der elterlichen Sorge betreffen, immer potenziell zur Verunsicherung eines kleinen Kindes führen; der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass das innerstaatliche Recht eine umfassende gerichtliche Überprüfung der Zuweisung der elterlichen Sorge und bei der Lösung von Konflikten zwischen getrennten Eltern immer dann vorsieht, wenn der Vater ehemals sorgeberechtigt war, entweder weil die Eltern zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes verheiratet waren oder danach geheiratet haben oder die gemeinsame elterliche Sorge vereinbart hatten. In einem solchen Fall behalten die Eltern das gemeinsame Sorgerecht, es sei denn, das Gericht überträgt nach § 1671 BGB auf Antrag eines Elternteils in Übereinstimmung mit dem Kindeswohl das alleinige Sorgerecht auf diesen Elternteil.«
Aus diesem Grunde enthält sich der Gerichtshof auch Spekulationen darüber, ob dem Beschwerdeführer die elterliche Sorge übertragen worden wäre, wenn dies zu prüfen gewesen wäre. Ausgeführt wird dazu Folgendes:
»[69] Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass er nicht darüber spekulieren kann, ob dem Beschwerdeführer die elterliche Sorge übertragen worden wäre, wenn die innerstaatlichen Gerichte die Begründetheit seines Antrags in Übereinstimmung mit seinen Rechten aus der Konvention geprüft hätten. Unter Berücksichtigung ferner, dass der Beschwerdeführer – im Unterschied zu dem Vater in der Rechtssache E. – während des gesamten Verfahrens regelmäßigen Umgang mit seiner Tochter hatte, stellt nach Ansicht des Gerichtshofs die Feststellung einer Verletzung eine hinreichende gerechte Entschädigung für den vom Beschwerdeführer erlittenen immateriellen Schaden dar.«
Als Folge von allem hat der Gerichtshof dem Beschwerdeführer Schadensersatz in der geltend gemachten Höhe zuerkannt.
Praxishinweis
Art. 8 der Menschenrechtskonvention lautet:
»1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.«
Art. 14 der Menschenrechtskonvention lautet wie folgt:
»Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.«
Ursprünglich standen nicht ehelich geborene Kinder laut § 1705 BGB automatisch unter der elterlichen Sorge der Mutter. Diese Bestimmung wurde jedoch 1996 vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt. Am 1. 7. 1998 trat die Reform zum Kindschaftsrecht zur Umsetzung des Urteils des BVerfG von 1996 in Kraft. Die einschlägigen Bestimmungen im BGB wurden dahingehend geändert, dass nach § 1626a Abs. 1 BGB die Eltern eines nicht ehelich geborenen minderjährigen Kindes die elterliche Sorge gemeinsam ausüben, wenn sie eine entsprechende Erklärung abgeben (Sorgeerklärung) oder einander heiraten. Andernfalls sieht § 1626a Abs. 2 BGB vor, dass die Mutter das alleinige Sorgerecht erhält. Für den Fall des alleinigen Sorgerechts der Mutter sieht § 1672 Abs. 1 BGB vor, dass das FamG die elterliche Sorge dem anderen Elternteil allein übertragen kann, wenn ein Elternteil mit Zustimmung des anderen Elternteils den entsprechenden Antrag stellt. Dem Antrag ist stattzugeben, wenn die Übertragung dem Wohl des Kindes dient.
Am 29. 1. 2003 befand das BVerfG, dass § 1626a BGB nicht mit dem GG vereinbar sei, da eine Übertragungsregelung für unverheiratete Eltern fehle, die 1996 zusammen gelebt, sich aber noch vor In-Kraft-Treten des Kindschaftsreformgesetzes am 1. 7. 1998 getrennt hätten, also diejenigen, denen es unmöglich war, vor dem 1. 7. 1998 eine Sorgeerklärung abzu-
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geben. Aus diesem Grunde hat der Gesetzgeber am 31. 12. 2003 Art. 224 § 2a des EGBGB eingeführt, wonach ein Gericht auf Antrag eines Elternteils die Sorgeerklärung des anderen Elternteils ersetzen kann, wenn nicht miteinander verheiratete Eltern längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft gemeinsam die elterliche Verantwortung für ihr Kind getragen und sich vor dem 1. 7. 1998 getrennt haben, vorausgesetzt die gemeinsame elterliche Sorge dient dem Kindeswohl. Im Übrigen hat allerdings das BVerfG befunden, dass § 1626a Abs. 2 BGB – von der fehlenden Übergangsregelung abgesehen – das Elternrecht des Vaters eines nicht ehelich geborenen Kindes nicht verletzt.